In meiner Umgebung bin ich von vielen Beratern umgeben die Unternehmen in Veränderungsprozessen begleiten. Dazu kenne ich buchstäblich dutzende Coaches die Personen bei Umbrüchen im Leben unterstützen. Sie vereint die Ansicht, dass sich ihre Kunden vom Alten verabschieden sollten. Viele sprechen von einem Sterbeprozess. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die alte Situation unwiederbringlich ist. Der alte Chef kommt nicht zurück. Der Abschied vom alten Wohnort ist endgültig. Das bisherige EDV-Programm wird nicht länger unterstützt und ersetzt.
Diese Berater und Coaches warten nun auf den Zeitpunkt, an dem sie wieder in gewohnter Weise arbeiten können. Gruppenprozesse moderieren und begleiten. Es werden Zwischenlösungen geschaffen um die Zwischenzeit zu überbrücken. Ziel ist die Rückkehr in die Normalität.
Gleiches Wort aber anderes Erlebnis
Es wird aber – noch – ausgeblendet, dass wir uns vielleicht von der Welt verabschieden die wir kannten. Das gilt natürlich nicht nur für Berater und Coaches, sondern es betrifft viele, die Nachrichten ausblenden „dass die Krise vielleicht wesentlich länger dauern könnte als wie es wahrhaben wollen“. Was wäre wenn:
- Der nächste Jahrgang Studenten nicht in die Hörsäle strömen könnte, sondern den Unterricht zu Hause von einer digitalen Plattform übermittelt bekommt?
- Die nächsten Jugendlichen nicht in den Fußballverein eintreten können, sondern zu Hause die Mannschaftssport vor dem Bildschirm an einer Gaming-Konsole erlebt?
- Fliegen wieder den Status der 50-er Jahre des vergangen Jahrtausends erlangt an dem dieses den Privilegierten vorbehalten war? Wenn zwei Meter Abstand erforderlich ist und Reisen vielleicht in Einzelkabinen, handelt es sich wieder um eine elitäre Beschäftigung.
Diese Personen würden vom „Studentenleben“ sprechen, vom „Vereinssport“ oder vom „Fliegen“ und mit diesen Worten ganz andere Bilder assoziieren als die Generation bis 2020 noch vor Augen hatte.
Extrovertiert und Introvertiert
West-Europa war von der sozialen Dominanz der Extrovertierten geprägt. Durchsetzungsfähigkeit, Entscheidungsstärke und Selbstbewusstsein waren in der hiesigen Kultur bevorzugte Werte. Derzeit schlägt die Stunde der Introvertierten. Nicht der Umgang mit Menschen steht im Vordergrund, das Charisma das durch Intonation, Körpersprache und Mimik transportiert wird. Derjenige der Technik beherrscht, sich selbst organisieren kann und dem ruhigen, ungestörten Arbeiten Qualitäten abgewinnt, ist der Sieger der Stunde.
Die Introvertierten haben sich in dieser Welt manchmal kaum zu Hause gefühlt. Sie empfanden sich fremd und unverstanden. Natürlich suchten sie einen Umgang mit den Anforderungen der lauten Umgebung. Viele haben ein Umfeld aufgebaut, das ihren Neigungen entsprach. Dennoch empfanden viele dieses als Kompromiss.
Nun sind es die Extrovertierten, die einen Perspektivenwechsel vornehmen. Zum ersten Mal werden sie mit dem Empfinden konfrontiert, keine Menschen um sich herum zu haben. Keine Ablenkung. Wenig Veränderung. Die Aussicht auf den morgigen Tag ist eine Wiederholung des Heute. Routine ist der neue Gebieter.
Temporär oder endgültig?
Noch sträuben wir uns gegen den Gedanken, dass unser heutiges Erleben nicht temporär sondern teils endgültig sein könnte. Noch werden Berichte, die von einem Fortdauern der heutigen Situation über Monate und Jahre sprechen, verdrängt. Gleichwohl wird das Antlitz der künftigen Welt ein anderes sein:
- Bestimmten Tätigkeiten können wir wahrscheinlich nicht mehr nachgehen. Sie sind zu gefährlich, zu teuer oder wurden in einen anderen Rahmen gestellt.
- Andere Verhaltensweisen wollen wir nicht mehr preisgeben. Wenn das Home-Office z.B. salonfähig gemacht wurde, bleibt dieses beibehalten für diejenige die sich darin wohlfühlen.
- Auch wenn einige Strukturen und Prozessen wieder in den alten Zustand zurückschwingen, sind wir nicht mehr die gleichen. Wer die Fragilität der Systeme gespürt hat, wird ihnen so bald nicht mehr trauen. Das muss nicht schlecht sein. Wer vor dem leeren Nudel-Regal stand, wird sie möglicherweise künftig selbst herstellen.
Verlorene oder gewonnene Lebenszeit?
Immer mehr rückt die Frage in den Vordergrund was wir mit der geschenkten Lebenszeit machen. Sehen wir diese als verlorene Stunden, Tage, Wochen an? Sind wir erbost, frustriert, verängstigt, dass wir der „Normalität“ nicht nachgehen können?
Oder ist die Krise ein Geschenk, das uns die Entwicklung neuer Kompetenzen, das Aneignen anderer Fähigkeiten, das Aufbauen ungewohnter Verhaltensweisen ermöglicht?
Je länger wir in uns selbst investieren, umso weniger werden wir bereit sein, das Neu-Erworbene nach dem Abflachen des Krisenmodus wieder Preis zu geben.
So ist der Abschied von der Welt die wir kannten auch ein Abschied von uns selbst so wie wir uns kannten.