Die zweite Welle erlaubt mehr Zeit zum Nachdenken. Welche Geschichten haben mich die vergangenen Jahrzehnte fasziniert? Wie können mir diese nun bei meiner Standortbestimmung Orientierung geben?
- Steinfabrik in Belgien
Ich bin Anfang 20. Jobbe in einer Steinfabrik in Belgien. Der Inhaber, Ende 50 macht seine Runde, mit seinem Sohn, Ende 20. Die Mitarbeiter haben Respekt vor dem Patron. Mit geübtem Auge nimmt er Ungereimtheiten und Optimierungspotenzial wahr. Der Sohn wirkt seltsam hölzern. Teurer Anzug. Vater versucht ihm sein Knowhow zu übertragen. Die Belegschaft tuschelt über den Nachfolger. Er ist Erbe. Aber sein Format füllt die Position noch nicht aus.
- Phantom der Oper in Hamburg
Wir schreiben das Jahr 1993. Meine Frau und ich fahren in das Phantom der Oper in Hamburg. Peter Hoffmann spielt und singt die Hauptrolle. Perfekt. Er hat – aus meiner Erinnerung – schon 200 Auftritte hinter sich. Etwas Merkwürdiges passiert. Nach Abschluss gibt es 15 Sekunden Applaus. Die Hauptdarsteller zeigen sich nicht ein weiteres Mal vor dem Vorhang. Das Publikum verlässt die neue Flora. Der Funken sprang nicht herüber. Der Auftritt war makellos, aber der Saal ist Zuschauer geblieben. Meine Frau und ich schauen uns an. Perfektion ist offenbar keine Gewährleistung für Berührung. Hier wurde eine saubere Leistung erbracht. Nicht mehr und auch nicht weniger.
- Ferrari Testarossa
Die gleiche Zeit. Eine gute Bekannte heiratet. Vater ist erfolgreicher Zahnarzt. Fährt einen Ferrari Testarossa. Wird zu diesem Zeitpunkt wegen langer Lieferzeit für 850.000 DM gehandelt. Papa ist cool. Das Auto passt. Zur Hochzeit kommt er mit seinem ältesten Sohn, um die 18. Gestyltes schwarzes Haar, rutschfest mit Gel. Eine Aura umweht ihn: Ich bin Sohn!
- Eine überraschende Konferenz
Das Jahr 2004. Ich nehme an einem dreitägigen internationalen Meeting mit knapp 100 Personen teil. Die Veranstaltung findet in einem christlichen Kongresszentrum statt. Die Erholungszeiten sind großzügig bemessen. Auf Grund persönlicher Kontakte werden wir zu einem Vortrag einer anderen Gruppe eingeladen der auch für uns interessant erscheint. Wir sitzen im großen Konferenzsaal und wissen kaum was auf uns zukommt, da es sich um eine kurzfristige und spontane Aktion handelt.
Ein Amerikaner betritt die Bühne. Zurückhaltende, ja schüchterne Persönlichkeit. Hose zu weit (für uns Europäer), zu hochgezogen. Ich kämpfe gegen erste Gedanken der Ablehnung. Neben mir sitzt Jochen (ich nenne ihn so). Ein harter Hund und guter Freund. Wir kennen uns seit 10 Jahren. Wir schauen uns an und fragen uns, ob wir eine falsche Entscheidung getroffen haben.
Dann passiert etwas. Während er spricht, verschwinden die andere Zuhörer aus meiner Wahrnehmung. Seine Geschichte fasziniert. Die hervorgerufenen Bilder füllen meine Wahrnehmung und Emotionen. Er spricht sachlich und dennoch füllen Tränen meine Augen. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals während einer Ansprache geweint zu haben. Ich schaue Jochen an der Schluchzt und mit den Händen durch die Augen fährt. Bis heute reden wir vom Erlebnis „dass ein Dolch in uns hineingebohrt wurde – und dann nochmals umgedreht“.
- Samuel Koch aus „Wetten, dass“
Januar 2020. Ich nehme an einer Konferenz in Augsburg teil. Januar. Vor Corona. 8000 Personen in einem Saal. Abends ist Samuel Koch einer der Gäste. Bekannt aus Thomas Gottschalks Fernsehshow „Wetten, dass“. Er sprang 2010 über fahrende Autos und blieb nach dem vierten Sprung querschnittgelähmt liegen. Er spricht an diesem Abend über Resilienz. Umgang mit widrigen Umständen.
Als er in seinem Rollstuhl auf die Bühne fährt, kannst Du eine Nadel im Auditorium fallen hören. Samuel schaut 8000 Menschen an – und hält sie die kommenden 20 Minuten in seinem Bann. Es ist eine unsichtbare Verbundenheit vorhanden. Und natürlich sind wir vom Gefühl beseelt: Wenn er uns mit seinem Humor zum lachen bringt und sein Leben meistert, wie viel mehr sollte ich mich nicht unterkriegen lassen und dankbar sein!
Das Geheimnis der Wirksamkeit
Haben diese Erinnerungen eine Gemeinsamkeit? Über die Jahre bin ich immer wieder überrascht von Menschen die auf Grund von Abstammung oder übertragene Position Macht haben, aber nicht überzeugen können. Andererseits bin ich auch den Personen begegnet, die unscheinbar auftraten, nicht die Massen mit ihrem Aussehen begeisterten und eher unsicher wirkten.
Sie kannten jedoch die Wirkung die möglich war. Als ich die Biographien las, den Personen zuhörte oder mit ihnen sprach, sahen sie ihre Wirksamkeit nicht als Automatismus an. Sie waren nicht in der Lage, die Atmosphäre, welche Veränderungen bei ihrer Umgebung bewirkte, hervorzurufen. Aber viele meinten, dass es aber etwas mit ihrem Leben zu tun hatte.
Hinter den Kulissen
Andere waren davon überzeugt, dass diese „Glückspilze“ die Sonnenseite des Lebens gepachtet hatten. Ein zweiter Blick offenbarte häufig das Gegenteil. Es waren Notlagen, Situationen der Verzweiflung oder auch Augenblicke der Aussichtslosigkeit die zu „Momenten der Wahrheit“ führten. In der Krise offenbarte sich der wahre Charakter, die tiefste Entscheidung, die gelebten Werte. Es hatte den Anschein, dass diese Personen in der unsichtbaren Welt an Autorität gewannen, die in der sichtbaren Welt wahrnehmbar wurde.
Corona macht unsere Welt kleiner, enger und wirft uns auf uns selbst zurück. Wut, Ablehnung und Hoffnungslosigkeit können logische Reaktionen sein. Persönlich will ich mich von Vorbildern inspirieren lassen, die Herausforderungen umarmt, Veränderungen integriert und Krisen als Einladungen zur Persönlichkeitsentwicklung angesehen haben. Die Handlungsspielräume in der natürlichen Welt wurden eingeschränkter. Dafür gewannen sie Vollmacht in einer anderen Dimension.
Abschließend gibt es natürlich Menschen die über die Jahre und Jahrzehnte ihr Handwerk beherrschen, es zu Meisterschaft bringen und ihre Umgebung überzeugen. Ich bin kein Esoteriker und halte nichts von „Magie“. Ich erkenne allerdings an, dass es mehr gibt, als wir sehen können und befasse mich gern mit Personen die sich darüber Gedanken gemacht haben, sofern dieses mit meinen Werten übereinstimmt.