Leben wir in einer Welt, die es noch gibt?

„Dieses sind die Ziele für 2022. Mit oder ohne Corona. Vielleicht müssen wir damit leben, dass uns die Pandemie den Rest unseres Lebens begleitet“. In dieser Radikalität hatte ich noch nicht über die aktuelle Situation reden hören. Ich ertappte mich dabei, dass ich diese Lebensphase eher als „vorübergehend“ einstufte, bis die „Normalität“ wieder eintrifft.

Aber hat uns eine neue „Normalität“ nicht längst im Griff? Kinder die heute zwei Jahre alt sind, kennen nur eine Welt draußen, in der Personen maskiert durch die Gegend laufen. Studenten, die im Sommersemester 2019 das Studium anfingen, sind ihre Kommilitonen im Zweifelsfall noch nie in Wirklichkeit begegnet. Andere haben ihr Heimatland im Falle internationaler Studiengänge noch nie verlassen, sondern nehmen online am Unterricht teil. Ihre Beschreibung des Studentenlebens weicht von unseren Erlebnissen erheblich ab.

Die Arbeitswelt hat Umwälzungen erlebt, die nicht mehr zurückgenommen werden. Unternehmenszentralen wurden aus Kostengründen verkleinert da Mitarbeiter vom Home-Office arbeiten. ZOOM-Meetings haben sich fest im Arbeitsalltag etabliert und werden – der Wirtschaftlichkeit wegen – nicht mehr aus dem Alltag verschwinden.

Ich will nur darauf hinaus, dass die Wahrnehmung der „alten Hasen“ von den früheren Erlebnissen geprägt ist, während Neu-Einsteiger eine völlig andere Realität empfinden.

Den Haag

Ich komme ursprünglich aus Den Haag in den Niederlanden und traf vor langer Zeit eine Person, der die Umwälzungen der Stadt zu schnell gingen. Sie kaufte sich Foto-Bücher wie die Stadt früher ausgesehen hat und war glücklich, da diese Bilder ihre Wirklichkeit widerspiegelten. Sie kam nicht vor der Tür und wenn überhaupt, fühlte sie sich desorientiert.

Nun sind Änderungen normal. Vor einigen Tagen habe ich mit meinen Kindern über Computer gesprochen. Großrechner bis zu den 70-er Jahren. Kleine Netzwerke in den 80-ern. Der PC in den 90-ern. Dann der Anschluss am Internet um die Jahrtausendwende. Die Tarifbeschleunigung erfolgte dann mit dem Eintritt des iPhones in 2007 und somit die Online-Mobilität. Weiterentwicklungen sind normal. So wird Corona aber nicht wahrgenommen. Die Gefahr ist ein Feind, den es zu besiegen gibt damit das Gestern wieder inthronisiert wird.

Mauer

Ein Artikel über Angela Merkel in der FAZ hat mich beeindruckt. Sie spricht am 30. Mai 2019 vor Harvard-Studenten von ihrer ersten Lebenshälfte in der DDR. Sie schildert wie „sie täglich auf dem Heimweg auf die Mauer zugegangen sei und kurz vor der Freiheit abbiegen musste“. Die Mauer habe ihre Möglichkeiten begrenzt. Aber eines schaffte diese Mauer in all den Jahren nicht: „mir meine eigenen inneren Grenzen vorzugeben“.

Die letzten Wochen habe ich mich mit Veränderungen in der Geschichte befasst. So habe ich bei Wikipedia über Nebukadnezar, den Babylonischen König nachgelesen. Er hat Völker unterworfen und integriert für die alte Realitäten endgültig abgeschlossen wurden und neue Wirklichkeiten anbrachen. Es wurde einige Male auf das Buch Daniel im Alten Testament verwiesen, das mit der historischen Information übereinstimmte.

Für welche Realität entscheiden wir uns?

Nebukadnezar war hoch intelligent und integrierte die Elite der unterworfenen Völker in seine Verwaltung. Ihnen wurde Gestaltungsfreiraum und Weisungsbefugnis übertragen. Diese Elite schaute nicht auf das Gestern zurück, sondern hat eine neue Macht kreativ genutzt. Andere dagegen lebten in der Vergangenheit, indem sie sagten: „An den Strömen Babels da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Du Verwüster! Glücklich, der Dir vergilt Dein Tun, das Du uns angetan hast“ (Ps. 137).

Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich meine Energie darauf verwende, weiterhin ein Leben in gestrigen Strukturen und Planung zu anvisieren. Gibt es diese Welt noch oder wird es sie wieder geben? Alternativ kann ich mich mit dem neuen Status Quo anfreunden. Das bedeutet eine endgültige und schmerzhafte Verabschiedung von Themen, die mir lieb waren. Die Trauer öffnet aber Türen zur Akzeptanz eines anderen Lebens und diese innere Freiheit kann mir – mit Verweis auf Merkel – niemand nehmen.