Stille Nacht – Hätten wir uns etwas weniger Ruhe gewünscht?

Weihnachten klassisch: Advent kam immer schneller als erwartet. Bis einschließlich 2019 war der Dezember von Stress geprägt. Im Betrieb lag die Deadline häufig beim 18. Dezember. Gleichzeitig wollten Weihnachtsgeschenke besorgt werden. Der Baum musste her. Der letzte Kampf um Ente und Dorade. Dann die Ruhe am Heiligabend.

Die Welt versank in einen zauberhaften Weihnachtsschlaf. Es war beruhigend zu wissen, dass nun wirklich alle Läden zugemacht hatten. Lockdown total in positivem Sinne. Langsam ebbte die Anspannung weg. Der Einstieg in Heiligabend war die Bescherung. Anschließend der genussvolle erster Weihnachtstag ohne Appell oder Verpflichtung. Glücklich, wer am zweiten Weihnachten nicht ins Auto stieg, um Verwandtschaft zu besuchen.

Die Tage „zwischen den Jahren“ waren vielfach eine Verlängerung des Wellness-Erlebens. Eine Art „Traumzustand“. Wie in Trance kauften wir Lebensmittel ein. Herausreißen lassen aus „Erholung pur“ wollten wir uns nicht. Silvester galt es noch zu genießen. Für mache Drei Könige. Spätestens dann hatte uns das Leben wieder zurück, wenn auch der Einstieg meist sanft verlief. Glücklich, wer in dieser Zeit die Batterien hatte aufladen können. Einzelne verbanden Regeneration mit Disziplin, blickten auf das vergangene Jahr zurück und wagten eine Vorschau mit Zielsetzungen für das neue Jahr. So kennen wir die Stille Nacht.

Dieses Jahr ist alles anders

Letztes Jahr hat uns überrascht. Das erste Mal seit 100 Jahren (Spanische Grippe) „Weihnachten in der Kontaktbeschränkung“ – und wir konnten dem in unserem „heroischen Kampf“ gegen die Pandemie noch etwas abgewinnen. Aber dieses Jahr ist alles anders. Wir kommen nicht aus einer Stress-Situation (natürlich gilt dieses nicht für alle). Für viele bedeutet der Arbeitsplatz das Home-Office. Ich sprach diese Woche mit einer Dame, für die das Onboarding beim neuen Arbeitgeber seit einem halben Jahr eine nicht ablassende Reise bedeutet. Die KollegInnen kennt sie lediglich virtuell. Wenn sie ins Büro fährt, ist sie allein.

Beim Besorgen von Weihnachtsgeschenken standen wir Schlange. 2G-Einlaß gegen Impfpass und Ausweis für eine begrenzte Anzahl Besucher. Mit Mundschutz liefen wir mumienhaft an den Regalen vorbei. Mimik und Gestik erkannten wir nicht bei anderen Kunden, Verkäufern und Kassierern. Keine Emotionen. Mechanisch. Dann lieber online bestellen. Der Paketdienst stellt die Kartons wortlos vor die Haustür. Klingeln und Weiterfahrt sobald die Tür geöffnet wird.

Während wir uns in der Vergangenheit nach den ruhigen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr sehnten, erleben viele diese Monotonie bereits seit Wochen, Monaten oder gar über ein Jahr. War die Stille Nacht immer ein Kompass, ein Magnet, ein Fokus auf das Jahresende, verliert sie nun an Sogwirkung und Attraktivität. Der Zauber will sich nicht einstellen. Viele würden sich gerade mehr Aktivität wünschen.

Kontaktbeschränkungen, Zurückhaltung beim Besuch der Verwandtschaft und gar eine Ablehnung, unter unwägbaren Bedingungen in den Urlaub zu fahren führen dazu, dass sich die Freude über die weiteren vor uns liegenden ruhigen Tage in Grenzen hält.

Die Reise ins Ich

Wir können uns aber in vielerlei Hinsicht auf die Reise machen. Von A nach B bewegen. Neuland betreten. Zum Beispiel indem wir:

  • Eine neue Sprache lernen (viele Lern-Apps machen dieses einfach)
  • Ein digitales Fotobuch erstellen, vom letzten Urlaub, den Kindern, uns selbst
  • Finanzkompetenz gewinnen, ein Depot eröffnen, erste Schritte mit Anlagen machen
  • Einen (neuen) Social Media Account eröffnen, teilen was uns wichtig ist, Spuren hinterlassen
  • Ein Sachbuch lesen, das unsere Kompetenzen erweitert
  • Mit Tools für digitale Kommunikation experimentieren (zunächst gratis), sei es ZOOM, Miro, Mentimeter und viele andere
  • Einen (digitalen) Kochkurs besuchen, neue Gerichte bereiten
  • Ein Buch schreiben und dieses ohne Kosten bei Book on Demand und somit Amazon veröffentlichen
  • Ein Tier kaufen und eine neue Beziehung aufbauen
  • Den Künstler in uns wecken und unsere Kreativität als Maler, Töpfer oder Musiker ausprobieren

Nicht jeder mag alles. Aber vielleicht ist bei den 10 Anregungen etwas dabei. Wenn wir das erste Mal etwas machen, versetzt uns dieses in einen Zustand von positiver Aufregung und füllt die Zeit gut aus. Netflix und Computerspiele sind eine Wiederholung bereits erlebter Erfahrungen und die Motivationswirkung nimmt ab.

Wem die Welt zur Selbstverständlichkeit geworden ist, erlebt Routine

Eigentlich haben wir die Kapazität, uns ständig von Neuem überraschen zu lassen. Das nunmehr 1991 erschienen Buch „Sophies Welt“ von Jostein Gaarder befasst sich mit der Philosophie, der Auseinandersetzung mit uns selbst und unserem Verhältnis zur Welt (Wikipedia). Er wurde in 65 Sprachen übersetzt und über 40 Millionen Mal verkauft.

Gaarder beschreibt, wie eines Morgens Mama, Papa und der kleine Thomas, der vielleicht zwei oder drei Jahre alt ist, in der Küche am Frühstückstisch sitzen. Mama steht auf und dreht sich zum Spülbecken um, und in diesem Moment schwebt Papa plötzlich unter der Decke. Gaarder schreibt: „Was glaubst Du, sagt Thomas dazu? Vielleicht zeigt er auf seinen Papa und sagt: ‚Papa fliegt!‘ Sicher wäre Thomas erstaunt, aber das ist er ja sowieso. Papa macht so viele seltsame Dinge, dass ein kleiner Flug über den Frühstückstisch in seinen Augen keine große Rolle mehr spielt. In seiner Erzählung kommt dann Mama an die Reihe. Sie hat gehört, was Thomas gesagt hat, und dreht sich resolut um. Gaarder verfolgt: „Wie, glaubst Du, wird sie auf den Anblick des frei schwebenden Papas über dem Küchentisch reagieren?“ Ihr fällt sofort das Marmeladenglas aus der Hand, und sie heult vor Entsetzen auf. Vielleicht muss sie zum Arzt, nachdem Papa wieder auf seinem Stuhl sitzt. Warum reagieren Thomas und Mama so unterschiedlich, nach Meinung von Gaarder? Es ist eine Frage der Gewöhnung. Mama hat gelernt, dass Menschen nicht fliegen können. Thomas nicht. Er ist noch immer unsicher, was auf dieser Welt möglich ist und was nicht.“ Die Schlussfolgerung von Gaarder: Wenn Kinder aufwachsen, gewöhnen sie sich an die Welt. Als Erwachsene haben wir unsere kindliche Aufnahmefähigkeit und Neugierde verloren. Wir wundern uns nicht länger. Die Welt ist uns zur Gewohnheit geworden.

Dadurch, dass wir uns festgelegt haben, was möglich ist und was nicht – was passieren wird uns was nicht, können die vor uns liegenden Tage plötzlich eine Last werden und keine Lust. Da versetze ich mich gern einmal in die Lage der Hirten, der Weisen, die aus ihrer Routine aufgeschreckt wurden. Gerade zu Weihnachten bin ich bereit, mich zu fragen, ob ich alles bereits gesehen habe, ob ich noch überrascht werden kann, ob meine Ansichten und Wahrnehmung der Welt letztendliche Gültigkeit vorweisen. Ich will anderen auf Augenhöhe begegnen, ihre Erfahrungen respektieren, ihre Erlebnisse stehen lassen. Wenn ich innerlich einen Schritt zurücktrete, Raum schaffe und neugierig bin, verliert die Stille ihre Bedrohung und begegne ich möglicherweise auch der Quelle des Lebens in einer nachhaltigen Dimension.