Die Aussage „Tiefster Stand seit der Wiedervereinigung“ überrascht nicht länger. Die Meldung haben wir bereits häufiger gesehen. Diesmal fällt aber auf, dass die Arbeitslosenquote auf 5,1 Prozent gesunken ist. Damit sind wir ganz nah an einer „4“ dran. Ist dieses der Fall, sprechen Arbeitsmarktexperten von Vollbeschäftigung. Natürlich ist dann noch eine leichte Fluktuation möglich, aber viel tiefer fällt die Arbeitslosigkeit nicht.
In den verbleibenden Prozentpunkten sind dann die Personen enthalten die möglicherweise nicht arbeiten wollen, denen eine marktgerechte Qualifikation fehlt oder die aus anderen Gründen vom Arbeitsmarkt abgelehnt werden. Vollbeschäftigung ist in bestimmten Bundesländern nicht neu. So schrieben Bayern und Baden-Württemberg sowie Teile Hessens bereits eine „ 4“ vor dem Komma. In manchen Landkreisen wie Freising oder Eichstätt wird gar eine „2“ geschrieben. Hier ist der Arbeitsmarkt leergefegt und ohne zusätzliche Reize ist es quasi unmöglich als mittelständischer Arbeitgeber noch Personal zu finden.
Was sind davon die Konsequenzen?
1. Euphorie
Bewerber die bisher eher zurückhaltend waren auf Grund vom Alter, Migrationshintergrund oder der Qualifikation sind überrascht, dass sich der Arbeitsmarkt offensichtlich gewandelt hat. Noch immer ist eine Bewerbung kein Selbstläufer. Wer die „Basics“ nicht beherrscht, kann diese durch die Menge der Bewerbungen auch wettmachen. Gleichwohl bemerken Kandidaten eine Veränderung und Möglichkeiten die sich vor wenigen Jahren in der Weise noch nicht geboten haben.
2. Ungenaue Darstellungen der Tatsachen von Arbeitgeberseite
Wurde vor wenigen Jahren den Bewerbern noch vorgeworfen, dass sie ihren Lebenslauf großzügig interpretierten und kreativ gestalteten, haben Arbeitgeber diese Kunst nun übernommen. Aufgaben, Zukunftsperspektiven sowie Betriebsklima werden häufig in einem rosaroten Licht dargestellt. Hauptsache: Der Bewerber unterschreibt. Wenn dieser einmal an Bord ist, wird er wohl bleiben – so die Überlegung.
3. Dammbruch
Es wird für Arbeitgeber gefährlich wenn eine kritische Masse überschritten wird. Ist z.B. ein Drittel einer Abteilung abgewandert, fragen sich die Verbliebene ob sie etwas falsch machen. Es setzt der Lemming-Effekt ein – und jeder möchte sich dem Exodus anschließen. Dafür gibt es sogar gute Gründe:
a. Monetäre Vorteile
Wer dreimal wechselt verdient im Schnitt 50 Prozent mehr Gehalt als der Kollege der beim Arbeitgeber verblieben ist. Diese soll nicht als Apell zur Kündigung verstanden werden – denn es kann sehr wohl herausragende Gründe geben, zu bleiben.
b. Häufige Wechsel werden üblich
In den USA wechselt Arbeitgeber im Durchschnitt sieben bis acht Mal den Arbeitgeber während der beruflichen Karriere. In Deutschland liegt die Zahl – noch – bei dreimal.
c. Paradigmenwechsel
Spürten die Babyboomers und Generation X noch Dankbarkeit ihrem Arbeitgeber gegenüber, dass sie eine „Chance“ erhielten, hat sich dieses bei der Generation Y und Z völlig geändert. Die Jahrgänge vor 1980 empfinden noch eine gewisse Loyalität dem Unternehmen gegenüber. Die nachfolgende Generation verhandelt auf Augenhöhe und sieht die Zusammenarbeit eher emotionslos. Es wird ein Gehalt für eine Dienstleistung geboten. Solange beide damit zufrieden sind, hat der Arbeitsvertrag Bestand.
Dieses kann sich von Arbeitgeberseite ändern (Standortschließung, Restrukturierung, Eigentümerwechsel). Genauso empfindet die jüngere Generation keinen Skrupel, sich vom Arbeitgeber zu verabschieden, wenn dieses der eigenen Karriere dienlich ist. Dieses haben sie vom Arbeitgeber abgeschaut, der mit diesem Verhalten von Mitarbeiterseite allerdings häufig überfordert ist.
Erste Ansätze dieser Prozesse sind sichtbar. Wenn sich Deutschland weiter Richtung Vollbeschäftigung bewegt, wird eine exponentielle und nicht eine lineare Entwicklung sichtbar. In meiner Heimat Holland ist die Geschichte eines Jungen bekannt, der seinen Finger in den Deich steckte und damit den Dammbruch verhinderte. Die Konsequenzen des Durchbruchs sind bekannt. Immer größere Wassermassen pressen sich durch die Öffnung bis die Landschaft nicht wieder zu erkennen ist. Im Wandel vom Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmermarkt werden auch wir uns von angestammten Gepflogenheiten verabschieden und eine neue Landschaft wahrnehmen – mehrheitlich zum Vorteil der Bewerber!