Zu Pfingsten: Eine kleine Reise in die Zukunft mit Antworten aus der Vergangenheit

War Corona ein Jahrhundertereignis?

Die aktuelle Pandemie wird von unserer Bundeskanzlerin als die größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg beschrieben. Das ist nachvollziehbar, denn sie betrifft jeden Bundesbürger individuell. Grundrechte werden in Frage gestellt. Einschränkungen emotional empfunden. Dazu ist die Bewältigung mit einer Belastung des Bundeshaushalts verbunden, die eine geraume Zeit ein geändertes Ausgabenmuster vom Staat erfordert, bis die alte Situation – wenn überhaupt – wiederhergestellt ist.

Kam die Pandemie überraschend?

Darüber lässt sich streiten. Vor allem im Nachhinein.

Es ist hundert Jahre her, da wütete weit verheerender die Spanische Grippe. Wikipedia spricht von 27 bis 50 Millionen Toten. In der jüngeren Geschichte wurde klar, dass Virus-Infektionen nicht gebannt waren. 2003 wurde die Welt mit der SARS-Epidemie konfrontiert. 2014 mit Ebola. Die mahnenden Stimmen waren bereits zu diesen Zeiten nicht zu überhören. Erstaunlicherweise feierte der DAX Anfang 2020 noch Höchststände von über 13.000 Punkten, während Corona bereits in China Wuhan lahmlegte. Keiner kam auf die Idee, Bestände zu verkaufen. „It hit us by surprise“…

Ein Jahrhundertereignis?

Möglicherweise! Die Auswirkungen waren auch derart verheerend für die Industrie, da die Welt eine andere ist als noch vor 50 Jahren. Warum haben die Automobilwerke ihre Produktion stillgelegt? Waren sie dazu verpflichtet, wie das Hotelgewerbe oder die Gastronomie? Keineswegs! Aber einerseits fiel die Nachfrage weg. Andererseits waren die Lieferketten unterbrochen.

Der Ruf zu einer Rückkehr der „systemrelevanten“ Industrien nach Deutschland ist nachvollziehbar – aber möglicherweise auch naiv. Die Regierung gibt Dräger einen Auftrag für 10.000 Beatmungsgeräte. Der Aktienkurs steigt um 70 Prozent. Dräger überlegt eine Erweiterung der Produktion. Das ist alles wunderbar. Aber die Kapazitäten sind auch nach Corona verfügbar und können möglicherweise nicht ausgelastet werden. An den Aktienkursen von Firmen wie Gilead ist die Hoffnung nach einem Impfstoff abzulesen. Eine Gesellschaft kann sich darauf ausrichten, eigene professionelle Masken zu produzieren. Sind das aber nachhaltige Entscheidungen?

Ich nehme uns mit auf eine kleine Reise zu einigen Ereignissen, auf die wir – zumindest zum Teil – aus meiner Sicht nicht wieder 100 Jahre warten müssen:

  1. Erdbeben St. Andreas Graben

Die Bilder des Erdbebens 1906 von San Francisco sind verheerend! Immerhin gibt es Foto-Dokumentationen. Wir reden also nicht vom Mittelalter! Die Ursache ist bekannt. In regelmäßigen Abständen regt sich der St. Andreas Graben vor der pazifischen Küste und zieht Regionen in Mitleidenschaft. Eine neue Naturkatastrophe wäre „eigentlich“ längst fällig. In der Zwischenzeit hat sich Kalifornien (wenn es ein Land wäre) zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht, nach den (Gesamt) USA, China, Japan und Deutschland emporgearbeitet. Das Bruttonationalprodukt beträgt knapp drei Billionen Dollar gegenüber Deutschland mit ca. einer Billion Dollar mehr.

Wenn das Silicon Valley, die industrielle Landwirtschaft aber auch Hollywood zusammenbricht, sind die Konsequenzen für die Wirtschaft unüberschaubar. Die Infrastruktur bricht zusammen, Immobilien, möglicherweise die Versicherungswirtschaft und die Banken, die Objekte als Sicherheit in ihren Beständen aufgenommen hatten. In diesem Szenario wären nicht Beatmungsgeräte- oder Mundschutz-Hersteller als „systemrelevant“ angesehen, sondern Baufirmen, Versicherer, Banken.

  1. Autonomes Fahren

Viel haben wir über autonomes Fahren gehört. Vielleicht so viel, dass wir die Brisanz nicht mehr wahrnehmen. Wenn wir davon hören, dann haben wir eher die deutschen Hersteller vor Augen, welche ihren Autos von Stufe zu Stufe das selbständige Fahren beibringen möchten. Waren die Anfangshürden noch recht leicht zu nehmen, wird jede nächste Stufe exponentiell schwieriger und somit kostspieliger und zeitintensiver!

Die Alphabet-Tochter Waymo ging einen anderen Weg. Dieses Unternehmen ging nicht vom Auto aus (das war schließlich austauschbar), sondern vom Computer. Die Firma ist Milliarden digitale Meilen gefahren und nah daran, Hindernisse zu überwinden, die ursprünglich als Show-Stoppers gesehen wurden. So können Erkenntnisse aus Verkehrssituationen aus Peking nun bald auch auf Mexiko City oder Berlin übertragen werden. Deutsche Automobilhersteller sehen sich abgehängt.

Was hat das mit unserem Alltag zu tun? Einen Vorschmack hat uns Tesla gegeben. Der Hersteller wurden mitleidig belächelt. Als ich 2017 in der WirtschaftsWoche las, dass Redakteure mit zwei Tankstopps von Hamburg nach München gefahren waren, wurde mir klar, dass hier ein Paradigmenwechsel stattfand.

Was geschieht, wenn es Waymo nachweislich gelingt ein Fahrzeug vor die Tür zu stellen in das man nur noch einsteigen und sein Ziel eingeben muss? Das Ding fährt los und der Passagier beantwortet E-Mails, liest Aktualitäten im Internet, konzentriert sich auf Telefonate, trinkt einen Kaffee oder erlaubt sich noch ein Nickerchen. Das machen wir alles im ICE – und haben ein gutes Gefühl dabei. Wenn die Automobilindustrie uns diese Option anbietet, kann das Fahrzeug wie ein Ei aussehen, oder es kann auch ein Produkt Deutscher Herstellung sein. Die Automobilindustrie wäre aber zum Hersteller von Blechhüllen degradiert. Das Herz würde woanders schlagen.

Die Wucht käme nicht so plötzlich wie Corona. Die Konsequenzen wären, zumindest für Deutschland, verheerend.

  1. Super Computer

Google verkündete im vergangenen Jahr einen Durchbruch bei dem Quantenrechner. Theoretisch gelang es dem Unternehmen Lösungen für Fragestellungen in drei Minuten zu schaffen, für die herkömmliche, leistungsstarke Computer 10.000 Jahre benötigen. Es blieben viele Fragen offen, aber der Grundstein war gelegt.

Gerade verkündet die Firma Honeywell weitere Fortschritte. Ein Team von 100 Quantenphysikern arbeitete seit vier Jahren an der Zukunftstechnik und will bereits im Sommer 2020 den »leistungsstärksten Quantencomputer der Welt« vorstellen. Ein solcher Computer kann dann z.B. die optimale Steuerung des Verkehrs in einer Metropole übernehmen.

Aber Experten befürchten, dass der Supercomputer noch mehr kann. Sie wäre möglicherweise in der Lage, Sicherheitssysteme zu entschärfen. Was nützen Firewalls, Passworte und sonstige digitale Abwehrmethoden, wenn ein Computer in ungekannter Geschwindigkeit wohl alle Kombinationsmöglichkeiten auf ein System loslassen und somit eindringen kann?

Wir brauchen nicht lange überlegen, wie eine Welt ohne Cybersicherheit aussehen würde. Wenn Bürgerdaten, Kreditkarteninformationen, Bankkonten, Lieferketten, Patente, Konstruktionspläne nicht länger geschützt werden könnten, wäre die einzige Sicherheit das Abschalten der Vernetzung. Die Idee ist nicht so absurd, denn eine schrittweise Automatisierung erleben wir erst seit den 1960-Jahren. Wir wären überrascht, wenn wir uns wieder am Bankschalter anstellen würden, damit wir Bargeld bekommen und unsere Überweisungsträger in den Kasten werfen würden. Arbeitslosigkeit ade. Und wahrscheinlich wären die Brieftauben, die Kurierdienste und die Papierhersteller systemrelevant.

  1. Hungersnöte

Lasst uns noch ein wenig weiterspinnen.

Wenn Ernten global zu Grunde gehen, z.B. auf Grund vom Klima (Dürre), würden wir andere Szenarien erleben. Genmanipulierte Lebensmittel wären hoch im Kurs, genau so wie chemische Düngermittel, die eine Vervielfachung der Nahrungswerte versprechen. Hersteller von Würmern und Insekten hätten wahrscheinlich Hochkonjunktur und die Aktie von McKrabbelburger würde durch die Decke gehen.

  1. Ansteigen der Meeresoberfläche

In jedem Szenario wären andere Industrien systemrelevant. Manche reden bereits von der Unumkehrbarkeit der Eisschmelze der Polarkappen. Als Niederländer kann ich mir gut vorstellen, was das bedeuten könnte. Was wären die Konsequenzen für die Immobilienpreise? Welche Häuser wären wertlos? Wie würden die Preise für Anwesen auf den Höhen anziehen? Die betroffenen Länder würden die Kompetenzen auf dem Gebiet von Deichbau als überlebensnotwendig ansehen.

  1. Meteoriteneinschlag

Und schließen wir unseren gedanklichen Spaziergang noch mit einer (beinahe) Kollision mit einem Meteoriten ab. Wenn die Menschheit bedroht wäre, würde alle Energie in Raketensysteme mit möglichst hoher Sprengkraft investiert werden, damit Gefahren aus dem All noch vor Einschläge auf der Erde beeinflusst werden könnten.

Warum dieser Ausflug?

Wir leben in einer globalen, vernetzen Welt. Wenn ein Szenario eintrifft – nehmen wir mal Deichbrüche und „Land unter“ – hätte dieses im Mittelalter eine regionale Bedeutung. Heute haften Versicherungen, haben Banken Kredite für die Finanzierung der Immobilien zur Verfügung gestellt und sich über ein globales Finanznetz wieder abgesichert. In der Bankenkrise 2008 haben wir bereits in einem wesentlich weniger dramatischen Szenario gesehen, wie die Bedeutung für die Weltwirtschaft ist, wenn vernetzte Systeme (sei es Banken oder Versicherungen) eine Gesamtlast nicht länger tragen können. Dann rede ich noch gar nicht davon, dass sich möglicherweise Fabriken in den überschwemmten Gebieten befinden würden, die nicht schnell durch andere Produktions- und Lieferketten ersetzt werden könnten.

Politische Entscheidungen

Natürlich muss die Politik auf die aktuelle Situation reagieren. Und somit ist der Auftrag für 10.000 Beatmungsgeräte nachvollziehbar. Die Tatsache, dass viele Länder ihre Supply-Chain Architektur in Frage stellen und „systemrelevante Industrien“ zurück in die Heimat verlagern, ist spannend. Es bleibt die Frage der Nachhaltigkeit. Die Vorteile der Globalisierung waren (neben aller Kritik) unverkennbar. In Regionen der Welt haben sich Spezialisierungen mit einer entsprechenden Kostenführerschaft ausgeprägt. Letztlich haben alle – nochmals: durchaus mit berechtigten Fragezeichen – davon profitiert.

Auf Grund von Corona werden Netzwerke entflechtet, Industrien verlagert, Branchen subventioniert, Kosten gesteigert, Wettbewerb reduziert.

Wenn die Welt – in der Tat – lediglich alle 100 Jahre mit einem Corona-Ereignis konfrontiert werden würde, wäre eine solche Entscheidung legitim. Ist das aber der Fall? Sind die heutigen Entscheidungen in drei Jahren obsolet? Impfstoff gefunden, Mundschutz nicht länger erforderlich, Kapazitäten für die Produktion von Beatmungsgeräten hinfällig. Wer wird – und das gilt auch für das Gesundheitswesen – Kapazitäten (dazu können auch Krankenhäuser gezählt werden) aufrechterhalten, die (überspitzt gesagt) alle 100 Jahre benötigt werden?

Wenn es stimmt, dass morgen ein anderes Szenario eintrifft, stellt sich die ganze „Corona-Frage“ neu, allerdings in einem völlig anderen Kontext. Cyber-Sicherheit, Lebensmittelknappheit, Überschwemmungen…

Was bedeutet dieses für uns?

Die Frage ist zu umfassend! Es gibt wohl immer weniger Sicherheit! Auch wenn ich nicht zu den „Fans“ gehöre, ich bin zumindest in der Lage, nachzuvollziehen, dass es in den USA Gruppen gibt, die sich dem „Survival“ widmen. Sie lernen, wie sie im Freien überleben, was sie essen können und wie ein Leben, unabhängig von Kreditkarten möglich ist. Besitz reduziert sich vielleicht auf das was transportiert werden kann und werthaltig ist, unabhängig von Währungen.

Relevanter erscheint die Frage für den Arbeitsplatz. Corona hat – auch – gelehrt, dass in der Unberechenbarkeit ein strategisches Vorgehen nicht immer möglich ist. Der 3-Sterne Koch hat seine Schwierigkeiten, unabhängig von Kompetenz, Ruf und Qualität. Das gleiche gilt für die Betreiber von Nobelherbergen, Fluglinien und Kreuzfahrten. Auch der gefeierte Fußball Star ist weniger gefragt, wie die Oskar Preisträger Filmstars die einfach nicht drehen können. Die Liste lässt sich mit Theater-Schauspielern, Orchestermitgliedern und Keynote-Speakern beliebig verlängern.

Das Leben ist begrenzt steuerbar

Die Erkenntnis, dass das Leben nicht steuerbar ist, mag beunruhigen. Es ist zum Teil „Glück“ ob man sich zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle am richtigen Ort befindet. Enthebt uns das von der Verantwortung, unser Leben zu planen? Nicht unbedingt, denn wir sind verantwortungsvolle Geschöpfe (…).

Gleichzeitig kann uns das etwas entspannter machen. Ich bin in Verbindung mit Hochschulabgängern (Anfang Mitte 20), mit Personen die nach ersten Berufserfahrungen einen MBA absolvieren (ca. 30 Jahre) sowie mit gestandenen Persönlichkeiten, die sich mit durchschnittlich 38 Jahren nochmals dem Erwerb eines Executive MBA (EMBA) widmen. Unabhängig von der Qualifikation stehen alle vor der gleichen Fragestellung. Was sind die richtigen Entscheidungen? Wie kann ich mein Leben erfolgreich leben?

Nicht wenige erleben Umbrüche, Neu-Anfänge, Einstiege in andere Tätigkeiten und Branchen als jemals anvisiert. Die Kompetenz, mit Abschieden umzugehen, sich auf Neues einzulassen, flexibel mit Unsicherheit zu leben, scheint wichtiger (zu werden) als die fokussierte fachliche Expertise in einem Bereich. Das lässt sich – selbstverständlich – nicht umfassend behaupten, denn wir benötigen noch immer die Chirurgen, die IT-Spezialisten, die Naturwissenschaftler. Aber ein Trend ist unverkennbar.

Pfingsten

Am Vorabend vor Pfingsten nehme ich Anleihe an der Überlieferung.

Ich lese von Petrus, Johannes, Andreas. Ein gefestigtes Leben als Fischer. Bis einer vorbeikommt, der in der Lage ist, durch Faszination aus dem Alltag heraus zu lösen. Er teilt eine Vision, diesen Kreis zu „Fischer von Menschen“ zu machen.

Dann ist nichts mehr berechenbar. Diese Personen sehen Orte die sie nie gesehen hätte, sprechen mit Leuten mit denen sie sich nie unterhalten hätten. Am Anfang des Tages ist nicht klar, was geschehen wird. Gesetzmäßigkeiten werden ausgehebelt. Sie hören Weisheiten die ihr Leben verändern. Sie bekommen Kompetenzen zugewiesen die ihre Vorstellungskraft sprengt.

Das Abenteuer ist drei Jahre später zu Ende, anscheinend. Doch die Geschichte geht nach Ostern weiter. Alles wieder beim Alten? Ja, aber nur 40 Tage. Dann ist endgültig Schluss – vorerst! Denn sie sollen warten, auf…? Etwas das sie sich nicht vorstellen können. Nie dagewesen. Das ist der Tag an dem ich diesen Beitrag verfasse. So lagen bereits neun Tage hinter unseren „Helden“ (in Anlehnung an einem Corona-Begriff).

Am Pfingstsonntag werden sie dann von einer Dynamik ergriffen, welche die ganze damalige Welt an den Grundfesten erschüttern wird. Dieses ist in der säkularen, geschichtlichen Lektüre dokumentiert.

Wenn ich, gerade an Pfingsten, die Biografien von Personen wie Philippus, Jakobus oder Silas lese, gewinne ich den Eindruck, dass sie sich in jeden neuen Tag hineinführen ließen. Ein Plan war nicht im Vorfeld, sondern erst im Nachhinein erkennbar. Eine gute Vorlage für das Jahr 2020. Ein Fahren auf Sicht, wie Angela Merkel die heutige individuelle, politische, gesundheitliche und wirtschaftliche Steuerung nennt, muss nicht zwingend schlecht sein.

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