Die inflationären Züge auf dem Arbeitsmarkt mehren sich

Drei Geschichten

Alle drei Telefonate der vergangenen Woche.

Geschichte 1

Ich kannte Frau B., 55 Jahre, aus der Betreuung im Jahr 2016. Mit dem Profil Kfm. Leiterin hat sie damals 40 Papierbewerbungen versendet. Daraus resultierten 10 Einladungen zu einem Vorstellungsgespräch. Januar 2017 fing sie ihre neue Tätigkeit an. Nun meldete sie sich. Ihr Arbeitgeber und sie passen doch nicht gut zusammen. Sie fragt Unterstützung bei der Neu-Orientierung an.

Geschichte 2

Auch Herr F. ist länger als ein Jahr bei seinem neuen Arbeitgeber beschäftigt. Consultant, IT-Bereich, 53 Jahre. Süd-Deutschland. Auch er stellte vor einem Jahr fest, dass er „nicht zum alten Eisen gehörte“ und er sich recht einfach Optionen erarbeiten konnte. Er hat das Erstbeste genommen – denn nach einer Zeit des Suchens wollte er nun mit meiner Unterstützung so bald wie möglich zurückkehren in ein Angestelltenverhältnis.

Allerdings stellt auch er nach einem Jahr fest, dass „the cultural fit“ nicht passend ist. Sein Arbeitgeber ist für seine Ideen nicht offen. Es steht (noch) keine Kündigung im Raum. Er möchte allerdings nicht unter Handlungsdruck kommen.

Geschichte 3

Herr W. ist Controller, 47 Jahre. Er hat erst Juli 2017 bei seinem neuen Arbeitgeber angefangen. Alles schien in Ordnung, bis ihm sein Chef die Schuld in die Schuhe schob für strukturelle Versagen der Vergangenheit. Mit Kündigungsfrist und Verlängerung kommt auch er auf ein Jahr, muss aber nun wieder neu – in seinem Fall: unfreiwillig – eine Suche starten.

Diese Geschichten häufen sich. Warum?

Erstens sehen wir – rein rechnerisch – mittlerweile Vollbeschäftigung.

Den ca. 2.3 Mio. Arbeitslosen stehen ca. 2.3 Mio. offene Stellen gegenüber.

Natürlich ist keine Passung gegeben. Wenn die Arbeitslosenquote aber weiter sinkt, schreiben wir bald eine „4“ vor dem Komma – und dann ist es berechtigt von Vollbeschäftigung zu reden. Bundesweit, wie es heute bereits der Fall ist in Bayern, Baden-Württemberg und Teile Hessens.

Die Konsequenz: Arbeitgeber werden zunehmend nervös. Mit Abstand an erster Stelle steht die Sorge, dass kein adäquates Personal mehr gefunden werden kann. Auch wenn noch kein totaler „Paradigmenwechsel“ stattgefunden hat, wäre es unrealistisch, zu behaupten, dass sich der Arbeitsmarkt nicht bewegt.

Im Gegenteil, und hier kommt Geschichte Nummer 4: Eine Dame, 50, Treasurer, die ich im Outplacementverfahren betreut habe, hat sich förmlich gegen „unseriöse Angebote“ von Headhunter und Unternehmen „wehren“ müssen. Unseriös? Warum? Es handelte sich in allen Fällen um ordentlich dotierte Stellen die es wirklich gab. Meine Mandantin hätte auch jeden Arbeitsvertrag unterschreiben können.

Nur wurde der Himmel etwas blauer dargestellt und das Gras grüner. Hauptsache: Sie würde unterschreiben! Genauso, wie dieses die Personen aus den ersten drei Geschichten gemacht hatten.

Als ich heute dann mit einer fünften Person gesprochen habe, einem Vertriebsleiter, 52 Jahre, den ich vor sieben Jahre betreute, wurde ich vorsichtig. Er war zwar zufrieden, wollte sich aber finanziell verbessern. Ob er „in seinem Alter noch eine Chance am Arbeitsmarkt hätte?“ Nun, diese Sorgen konnte ich ihm nehmen. Ich habe aber sehr stark dazu geraten, auf keinen Fall das Erstbeste zu nehmen.

Es wird Zeit für ein Umdenken. Bewerber sollen sich kritisch in die Rolle des Fragenden hineinversetzen. Sie sollen darauf bestehen, den künftigen Arbeitsplatz zu sehen. Auf alle Fälle sollen sie sich lange mit dem künftigen Vorgesetzten unterhalten. Wie versteht diese Person Führung? Was kann erwartet werden? Was wird von ihr gefordert? Wie wird die – gelebte – Unternehmenskultur beschrieben? Am besten hört der Bewerber dieses vom künftigen Team. Es gibt ohnehin einen Tag 1. Warum diesen nicht vorziehen?

Das Team ist am besten in der Lage, darzulegen, wie der Laden „wirklich tickt“. Wenn es möglich ist, den potenziellen Arbeitgeber besser kennenzulernen, können fundierte Entscheidungen getroffen werden. Letztlich haben auch die Unternehmen in den ersten drei Geschichten nichts gewonnen. Wenn der Bewerber die Firma nach einem Jahr verlässt, hat der Arbeitgeber nur Geld, Zeit und Nerven verloren und der Arbeitnehmer schaut auf eine Situation zurück die das Selbstverstrauen in Mitleidenschaft zieht und einem Lebenslauf zumindest Schaden hinzufügt.

Das Karussell dreht sich immer schneller. Dann je mehr Fluktuation bei Unternehmen sichtbar ist, umso mehr werden auch die Mitarbeiter die sich bisher nicht mit Abwanderungsgedanken beschäftigten, dazu ermutigt. Umso mehr müssen Arbeitgeber Lücken stopfen. Das Risiko der Inflation bei Auswahlverfahren nimmt dramatisch zu.

Bewerber sollten es nicht zwingend als gutes Zeichen werten, dass sich die Optionen rascher und einfacher anbieten. Im Sinne des Selbstrespekts sollten sie nun die Rolle einnehmen, die früher die Arbeitgeber gern gespielt haben: Sie sollten zur Entschleunigung des Bewerbungsprozesses mahnen, Zeit zum Überlegen für sich in Anspruch nehmen, mehrere Gespräche führen und so viele Personen wie möglich beim etwaigen neuen Arbeitgeber kennenlernen, bevor sie die Entscheidung zur Unterschrift treffen.