Vor drei bis fünf Jahren sprachen vor allem Unternehmensberater und Coaches – gelegentlich etwas süffisant – von einer VUCA-Welt. Sie meinten damit schwerpunktmäßig die Informationsüberflutung und das Tempo der Ereignisse das unsere Fähigkeit die Ereignisse zu verarbeiten überforderte. So konnten wir die Zukunft nicht länger aus der Vergangenheit ableiten und mussten andere Entscheidungsprozesse lernen. Dieses machte sich auch in der Führung bemerkbar. In der Arbeitswelt hatte die neue Generation der Mitarbeiter eine andere Sozialisierung durchlebt und es kam zu Spannungen mit den Babyboomern. So weit so interessant – aber die veränderte Welt bliebt für viele auf bequemer Distanz.
Pandemie
Dann wurde es ernst. Mit Corona wurden die Veränderungen für viele persönlich erlebbar. Die erwähnten Coaches und Consultants waren – wie viele andere – plötzlich persönlich betroffen, da keine Präsenzveranstaltungen mehr durchgeführt wurden. Nicht nur die Politik, sondern auch Unternehmen „fuhren auf Sicht“, froren Budgets ein, zögerten Entscheidungen hinaus. Das Home-Office hielt Einzug in den Arbeitsalltag, für manche ein Segen, für andere ein Fluch.
Kritische Supply Chains
Es ist gar nicht lange her, dass eine – teils – zurückgewonnene Kontrolle über die Pandemie erneut unter Druck kam, nun von den verletzbaren Lieferketten. In einer digitalen Welt sind Chips nicht mehr wegzudenken – und plötzlich stellten wir fest, dass das Fehlen einiger Nanometer ganze Fabriken lahmlegen konnte.
Inflation & Krieg
Zusätzlich wurden andere Sicherheiten in Frage gestellt. Wer Vermögen aufgebaut hatte, sah sich einer Geldentwertung gegenüber, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Während wir uns noch den Kopf zerbrochen haben, wie wir der Inflation parieren könnten, passierte das Undenkbare: Erneut Waffengewalt auf Europäischem Boden.
Gegen diesen Hintergrund hört es sich fast trivial, ja unangebracht an, sich mit der Frage nach dem Arbeitsmarkt zu befassen. Ich stelle mich dem Befremden mancher, da die Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit auf individueller Ebene vor makro-ökonomischen und geo-politischen Fragestellungen keinen Halt macht.
Eigene Unsicherheit wird auf Arbeitgeber übertragen
Viele sind der Ansicht, dass sich die heutige Zeit denkbar schlecht für eine Neu-Orientierung eignet. Die eigene Verunsicherung wird auf den Arbeitgeber übertragen. Wer stellt schon ein? Dafür braucht es doch eine langfristige Perspektive? Das ist richtig – und gleichzeitig wird der Arbeitgeber auch mit anderen Realitäten konfrontiert, z.B.:
- Demographie – Das Thema ist nicht neu, entzieht sich aber jeder sonstigen Krise. Es bleibt eine Realität, dass sich jährlich ca. 1,4 Mio. Erwerbstätige in den Ruhestand verabschieden, während, neu, zwischen 600.000 und 700.000 Personen in den Arbeitsprozess einsteigen. Dagegen erscheint es eine Lappalie, wenn bei manchem Arbeitgeber 300 Arbeitsplätze verloren gehen. Nicht umsonst bereitet die Rekrutierung von qualifizierten Mitarbeitern den Arbeitgebern mit Abstand die größte Sorge.
- Neue Kompetenzen – In der bereits erwähnt schnelllebige Welt werden neue Kompetenzen händeringend gesucht. Im Automotive-Bereich werden beispielsweise Motorbau-Ingenieure die altersbedingt ausscheiden möglicherweise nicht ersetzt, dafür werden zehntausende Software-Entwickler gesucht.
- Sinn – Corona führte in den USA zur „Great Resignation“. Millionen Arbeitnehmer kündigten. Viele entschieden sich für ein „Retirement“, das in Amerika – bekannt – mehr selbstbestimmt möglich ist als in Deutschland. Andere machten gerade in der Pandemie nochmals eine Bestandsaufnahme über den Sinn der Tätigkeit (auch im Home-Office) und viele kamen zum Entschluss, dass sie mehr Sinn und Erfüllung im Leben suchten. Auch wenn diese Bewegung in der erwähnten Größenordnung bisher in Europa ausgeblieben ist, kann sich kaum ein Unternehmer dem Arbeitnehmerwunsch nach Sinnhaftigkeit (auf Neu-Deutsch: Purpose) entziehen.
Diese Tatsachen werden von folgenden Statistiken und Aussagen untermauert:
- Jobbörsen – es sind 70 Prozent mehr Stellen ausgeschrieben als im Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit befindet sich fast auf dem Vor-Corona Niveau.
- Während Corona dauerte eine Stellenbesetzung 135 Tage gegenüber 62 Tagen im Jahr 2016.
- Headhunter – Überschriften wie „Fachkräftemangel sorgt für Boom bei Headhuntern“ sind an der Tagesordnung.
- Die Bedeutung der HR-Abteilungen definiert sich völlig neu. Von einer unterstützenden Rolle kommt ihnen nun einer strategischen Bedeutung zu (vielleicht hätten sie diese bereits immer haben sollen).
Aus meinem Mandantenkreis kann ich obige Beobachtungen bestätigen:
- Der indische Hochschulabgänger (Maschinenbau-Ingenieur) wird gern vom Maschinenbauer in Baden-Württemberg angeworben.
- Dem 57-jährige Kfm. Leiter mangelt es nicht an Angeboten auf Grund seiner Initiativbewerbungen und Reaktionen auf ausgeschriebene Stellen. Er entscheidet sich bequem für eine Position, bei der ein Umzug nicht erforderlich ist.
- Der 40-jährige Pressesprecher findet auch nach einer längeren Zeit der Selbständigkeit einfach zurück ins Angestelltenverhältnis in Berlin.
- Der 44-jährige Marketingleiter findet – nach Kündigung durch den Arbeitgeber – einen eleganten Anschluss in Hessen noch während der Kündigungsfrist.
- Der 47-jährige Speditionskaufmann findet aus der Auffanggesellschaft recht einfach einen Anschluss in einem von ihm favorisierten Familienunternehmen.
Diese Liste, welche aktuelle Beispiele aufzählt könnte deutlich verlängert werden. Die Grundprinzipien sind immer gleich (Auszug):
- Klarheit über die Positionierung.
- Ein Profil das kurz und knapp Erfolge und Kompetenzen sichtbar macht.
- Das Erschließen des Arbeitsmarktes in parallelem Verfahren: Reaktion auf ausgeschriebene Stellen, Kontaktaufnahmen zu Personalvermittlern, Initiativbewerbungen an Unternehmen, qualifizierte Profile bei Karriere-Netzwerken damit Kontaktaufnahmen möglich sind.
Fokus
Auch wenn es schwerfällt: Wir benötigen auf Ruhe im Kopf. Die Berichterstattung wird alle fünf Minuten aktualisiert. Der Griff zum Smartphone lässt uns in einer Welt versinken, mit deren Aktualitätsgehalt und Sichtweise wir uns befassen müssen und die zumindest Energie kostet. Vor nicht allzu langer Zeit hat das Überbringen von Nachrichten Tage oder Wochen gedauert. Jemand begegnet heute in einer Großstadt mehr Personen an einem Tag als früher in seinem gesamten Leben. In meiner direkten Umgebung befinden sich Leute, die sich bewusst eine bestimmte Zeit von den Nachrichten abkoppeln – um herauszufinden, dass es sie und die Welt nach einigen Tagen immer noch gibt.
Manchmal benötigen wir eben diese Perspektive damit wir entdecken, dass der Arbeitsmarkt in unserer Mikrowelt mit unseren Kompetenzen sehr glücklich ist.