Bewerben 4.0: Leseprobe aus Kapitel 10: Rückkehr der Tugenden > Perfektioniere den Umgang mit Menschen (Auszug 10 von 10)

Kürzlich war ich in München. Hier traf ich einen Rechtsanwalt für Personalrecht, mit dem ich seit 20 Jahren verbunden bin. Wir sprachen über gemeinsame vergangene Erlebnisse. Er erzählte, mit welchen Herausforderungen er als Arbeitgeber zu kämpfen hat. Bayern hat bei der Arbeitslosenquote eine drei vor dem Komma. Das gilt als Vollbeschäftigung. Davon konnte er ein Lied singen. Es war für ihn unmöglich, Ausbildungsplätze zu besetzen. Bewerber, die Rechtsanwaltsfachangestellter werden wollen, klopfen zunächst bei den Rechtsabteilungen von BMW, Siemens und der Allianz an. Dann gibt es noch die großen Kanzleien. Die kleineren Sozietäten gehen leer aus.

Er beschäftigt zwei ehemalige Auszubildende, die er übernommen hatte. Unter 3500 Euro Monatsgehalt sei es unmöglich, jemanden zu halten. Außerdem nimmt er erhebliche Qualitätsdefizite bei der Arbeitsleistung hin. Einer der beiden meldet sich regelmäßig krank. Am liebsten würde der Rechtsanwalt sich von dieser Person trennen. Dann würde allerdings noch mehr Arbeit liegen bleiben. So fühlt er sich zwar erpresst, sieht aber dennoch keinen Ausweg.

Die andere Person sei zudem nicht in der Lage, einen ordentlichen Brief zu verfassen. Mein Bekannter hatte sie gerade wieder auf die Rechtschreibung angesprochen. Er schilderte den Dialog folgendermaßen: „Frau Schmidt, sehen Sie nicht, dass bei Ihrem Word-Dokument alles rot unterstrichen ist? Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist alles falsch!“ Er versuchte dann noch, seinen Unmut zu begründen: „Als Rechtsanwälte haben wir ohnehin wenig Möglichkeiten, uns von der Konkurrenz abzuheben. Wir machen keine Werbung. Aber die Dokumente, die wir versenden, sind unsere Visitenkarten. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass diese voller Fehler sind.“ Daraufhin erwiderte die Dame: „Ich kann doch aber nicht jedes Wort nachschauen …“

Ähnliche Berichte kenne ich aus der Pflege. Wie erwähnt, führe ich seit 2011 regelmäßig Führungstrainings in Krankenhäusern durch. Diese finden schwerpunktmäßig in Hamburg und Frankfurt statt. Auch wenn das Schlagwort „Fachkräftemangel“ häufig in der Kritik steht, beim Pflegenotstand sind sich alle einig, vor allem in den Großstädten: Er ist real! Nur wenige können sich die Mieten in den Metropolen noch leisten. Somit gestaltet sich die Suche nach Pflegekräften in den Ballungsgebieten als sehr schwierige Aufgabe. Die Stationsleitungen beschreiben das Dilemma dann wie folgt: „Wissen Sie, wir erhalten kaum Resonanz auf unsere Anzeigen. Wenn wir dann doch Gespräche mit Bewerbern führen können, haben wir meistens von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei den Kandidaten. Was raten Sie mir? Soll ich mich gegen mein Gefühl für eine Person entscheiden, auch wenn ich mit ähnlichen Situationen in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gesammelt habe? Oder meinen Sie, ich soll jeder Person eine neue Chance geben? Ich brauche dringend Entlastung, denn wir haben viele Krankheitsfälle, und die Überlastung demoralisiert die Übriggebliebenen. Allerdings ist es noch frustrierender, Zeit und Energie in die Einarbeitung einer neuen Person zu investieren und die Unterstützung vom Team einzufordern, wenn wir uns innerhalb der Probezeit wieder trennen müssen.“ Mit solchen Fragestellungen werde ich immer wieder konfrontiert. Sie beschreiben die Situation vieler Arbeitgeber recht gut.

Nichts ist mehr selbstverständlich

Fachliche und soziale Kompetenzen, die früher vom Arbeitgeber vorausgesetzt wurden, fehlen heute. Das fängt bei der Rechtschreibung an, erstreckt sich über einfache Benimmregeln und hört bei der Kommunikationsweise auf. Gelegentlich führe ich in Gymnasien Bewerbungstrainings durch. Interessierte Arbeitgeber, die Ausbildungsplätze zu besetzen haben, stehen meistens mit den Lehrern in Verbindung. Diese erzählen immer wieder Haarsträubendes. Sie suchen zwar dringend Lehrlinge, können sich aber nicht für Bewerber entscheiden, die im Gespräch schief auf dem Stuhl hängen, einfach nicht in der Lage sind, ein Gespräch zu führen, Blickkontakt zu halten oder einigermaßen zusammenhängend über sich selbst zu erzählen.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wurde im Juli 2017 ein Artikel über den neuen Analphabetismus veröffentlicht. Dabei handelt es sich nicht darum, dass Schüler nicht mehr lesen und schreiben können. Sie sind allerdings nicht länger in der Lage, das Gelesene auch zusammenzufassen oder den Inhalt wiederzugeben. Interessanterweise liegt das Problem nicht darin, dass Inhalte digital vermittelt werden statt auf Papier. Sondern, so die FAS: „Die neuen Analphabeten können zwar lesen und schreiben, sie haben alle Voraussetzungen Texte zu erfassen. Doch sie sind trotz halbwegs solider Ausbildung nicht mehr in der Lage, längere Texte und Bücher zu lesen. Es fehlt nicht an der nötigen Bildung, sondern an der Konzentrationsfähigkeit, dem Durchhaltevermögen, der inneren Ruhe und der Freiheit von Ablenkungen.“

Laut JIM-Studie 2016 gaben nur 27 Prozent der Jugendlichen an, täglich oder mehrmals in der Woche eine Tageszeitung zu nutzen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 47 Prozent der 12- bis 19-Jährigen. Gleichzeitig wird mehr gelesen als je zuvor. Wenn die Kommunikation über Smartphones und das Lesen im Internet hinzugenommen wird, kann von einem deutlich erweiterten Leseverhalten gesprochen werden. Jedoch werden die Texte nur überflogen und selten zu Ende gelesen. Folgende Zahlen beziehen sich auf die USA. Der Trend wird aber – mit etwas Verspätung – auch in Deutschland spürbar. So verbringt der durchschnittliche Amerikaner täglich zehn Stunden und 40 Minuten vor einem Bildschirm. Darin sind viereinhalb Stunden Fernsehen enthalten. Während der letzten zwölf Monate kam zur Verblüffung der Forscher eine weitere Stunde hinzu. Mehr als 80 Mal pro Tag wird der Bildschirm des Smartphones aufgerufen. Und das Gerät wird über 2500 Mal pro Tag berührt, wenn jede Handlung und jeder eingegebene Buchstabe mitgezählt wird.

Auch bei diesen Zahlen scheint es noch Luft nach oben zu geben, um noch mehr Zeit vorm Bildschirm zu verbringen. „Unsere Konkurrenz ist der Schlaf“, gab Reed Hastings, Vorstandsvorsitzender von Netflix, während einer Telekonferenz mit den Investoren seines Unternehmens bekannt. Mediziner in den USA kritisieren den Schlafmangel bei vielen Amerikanern. 40 Prozent schlafen weniger als sieben Stunden, was unter anderem die Konzentration und Aufmerksamkeit senkt.

Anders als beim Sehen, Hören und Reden handelt es sich beim Lesen nicht um eine angeborene Fähigkeit. Lesen erfordert Disziplin. Wer zuerst gelernt hat, ein gedrucktes Buch zu lesen, kann später auch konzentriert am Bildschirm lesen, wo die Ablenkungsgefahr viel größer ist. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, diese Fähigkeit zu erhalten und zu pflegen, denn wie wir sehen, kann die Texterfassungskompetenz verloren gehen.

@metropolitan.verlag

Auszug aus meinem neuen Buch „Bewerben 4.0“

www.metropolitan.de/buch/bewerben-4-0/

Kapitelübersicht:

1 Bewerben 4.0: Verstehe die Welt

2 Positionierung auf dem Arbeitsmarkt: Folge deiner Leidenschaft

3 Resilienz: Sorge für dich selbst

4 Konvergente Entwicklung: Konzentriere dich auf das Wesentliche

5 Divergente Entwicklung: Mach dich sichtbar

6 Von Traditionalisten bis Generation Z: Nutze deine Chance

7 Neue Beschäftigungsverhältnisse: Gestalte dein Leben

8 Vertrauen: Baue ein Beziehungsnetzwerk auf

9 Das Jobinterview: Zeige deine Persönlichkeit

10 Rückkehr der Tugenden: Perfektioniere den Umgang mit Menschen