Dualität der Digitalisierung

Das Wort „Digitalisierung“ löst bei Gewerkschaften, Regierung und Unternehmen unterschiedliche Reaktionen aus. Am Tag der Arbeit wurde die Arbeit 4.0 von Mitarbeitervertretern auf landesweite Veranstaltungen als Gefahr für bestehende Jobs dargestellt – berechtigt.

Auch die Landesregierung z.B. in Niedersachsen hat sich eher defensiv zur Schaffung von Sondervermögen entschieden. So soll dem Sonderfonds Digitalisierung in diesem Jahr zunächst 500 Millionen Euro aus Überschüssen des Landes zugeführt werden. Der Fonds soll bis ins Jahr  2022 auf eine Milliarde Euro wachsen. Damit sollen die Gefahren aus dem Umbruch der Digitalisierung abgemildert werden.

Unternehmen dagegen sehen eher – oder zumindest auch – die Chancen welche die Digitalisierung bietet. Die FAZ vom 5. Mai berichtet, dass Amazon weitere 2.000 unbefristete Stellen in diesem Jahr schaffen möchte. Ralf Kleber, Deutschland-Chef „wirbt um Bewerbungen“. Mit dann insgesamt 18.000 Angestellten beschäftigt Amazon mehr Mitarbeiter als z.B. Vodafone oder Vattenvall.

„Wir stehen am Anfang der Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung eröffnet“ sagt der Deutschland-Chef. Wer meint, dass nun lediglich IT-Mitarbeiter gesucht werden, sollte sich die offenen Positionen mal anschauen. Es werden Sprachwissenschaftler, Personalspezialisten, Logistikfachleute aber auch Berufseinsteiger und sonstige erfahrene Fachkräfte mit unterschiedlichsten Qualifikationen gesucht.

Die Job-Seite gibt einen detaillierten Aufschluss: Es werden Vakanzen für Sales-Manager, Lösungs-Architekten und natürlich Software-Entwickler für die Logistik aber auch für die Bereiche Amazon Web Services und Alexa ausgeschrieben. Die Stellen werden nicht nur in den Metropolen Berlin, Frankfurt oder München vergeben, sondern auch in Aachen, Bad Hersfeld oder Tübingen.

Wer die Gefahren der Digitalisierung beschreibt ist vorsichtig – und Realist. Wer allerdings ohne Vorurteil die derzeitige Berichterstattung in Bezug auf den Personalmarkt verfolgt, gewinnt zumindest ein ergänzendes Bild. „Es ist unglaublich schwer, gute Fachkräfte zu finden“, sagt David Suermann, Gründer von Klardenker, auf Deutsche Startups. „Der Stellenmarkt für Fachkräfte boomte im letzten Quartal weiter“ heißt es auf Rekrutierungserfolg. Und n-tv meint: „Wachstum wird noch stärker“.

Der Wandel spielt sich – bekannt – nicht gegen eine stabile Anzahl verfügbare Arbeitskräfte ab, sondern gegen den Hintergrund eines schwindenden Potenzials an Erwerbstätige. Für die zwei Babyboomer die täglich in Rente gehen, rückt ein Vertreter der Generation Y oder Z nach. So erhöht sich den Druck auf den knappen Arbeitsmarkt von zwei Seiten. Die Mitarbeiter werden weniger und der Bedarf erhöht sich.

Dieses zwingt Arbeitgeber zu Zugeständnissen bei Geschlecht, Teilzeitstellen, Migrationshintergrund oder Alter. Natürlich vollzieht sich dieser Prozess behutsam, er ist aber sichtbar. Verstärkt finden Frauen zurück in den Arbeitsprozess. Manche meinen, die Integration von Flüchtlingen sei für Arbeitgeber ein glücklicher Umstand. Auch das Alter verliert an Schrecken, nachdem viele die Erfahrung gemacht haben, dass auch jenseits von 50 noch Interesse an Fachkompetenz vorhanden ist.

Headhunter klagen eher dass Arbeitgeber zu langsam sind, interessanten Kandidaten eine Zusage zu machen. Es geschieht häufig, dass sich der potenzielle Mitarbeiter bereits anders entschieden hat, wenn das Unternehmen die Zusage macht. Auch haben sich Personalvermittler vielfach längst von der Gepflogenheit verabschiedet, dass drei bis fünf Kandidaten präsentiert werden aus denen der Auftraggeber auswählen kann. Der Arbeitsmarkt gibt diese Vorgehensweise nicht länger her.

Hinzu kommt: Der Bedarf an Mitarbeiter für die Bewältigung der Digitalisierung wächst schneller als sich Bildungssysteme umstellen können. Die exponentielle Entwicklung der Arbeit 4.0 schafft einen Bedarf dem analoge Bildungssysteme nicht folgen können. Die Konsequenz: Knowhow wird vielfach höher bewertet als akademische Bescheinigungen, die es möglicherweise noch gar nicht gibt, da die Mühlen der Akkreditierungen zu langsam mahlen.

Gefahren also, dass die Digitalisierung die Welt die wir kennen in rasantem Tempo ändert? Ja, ohne Zweifel! Chancen für den der sich neu erfinden will oder muss? Ja, ebenfalls! Der Versicherungsspezialist wird Architekt von Vermarktungsplattformen. Der Sales-Manager wird Experte für Change-Management. Und der Konzern-Bereichsleiter begleitet mehrere Start-Ups zum Erfolg. Alles aktuelle „agile“ Beispiele von Mandanten deren Entwicklung ich während der letzten Monate beobachtet habe.