In der Krise eine gute Arbeitsmarktsituation für Bewerber? Fakt oder Fiktion?

Rudolph Friedrich (Name geändert) meinte zu mir: „Eigentlich ist es erstaunlich. Wir erleben Corona, einen Krieg in Europa, Inflation, gestörte Lieferketten und die Chip-Krise. Dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas zum Positiven für die Arbeitnehmer ändert. Ich habe die kommende Woche fünf Interviews, mehr als ich jemals zuvor in einer Woche erlebt habe. Deckt sich dieses auch mit Ihren sonstigen Erfahrungen?“

Herr Friedrich hat sich vor 10 Jahren mal bei mir gemeldet. Später nahm er an einem Seminar Job-Hunting teil. Er war auf Sicherheit bedacht und hat nie den Arbeitgeber gewechselt. Gelegentlich sendete er ein paar Zeilen. Aber nun schien die Zeit reif.

In der Tat scheint die Schere in unwirklicher Weise auseinanderzugehen. Die schlechten Nachrichten dominieren (ist das nicht immer der Fall?). Auf alle Fälle können scheint es schwer vorstellbar, dass Arbeitgeber in dieser unsicheren Lage Personal einstellen. Gleichzeitig lesen wir mit zunehmender Hartnäckigkeit, dass Unternehmen der Personalmangel mit Abstand die größte Sorge bereitet.

1,7 Millionen Stellen sind zu vergeben – mindestens

Das Handelsblatt sagt dieses Wochenende, dass 44 Prozent der befragten Unternehmen (KfW-Ifo-Fachkräftebarometer) ihre Geschäftstätigkeit durch fehlendes qualifiziertes Personal beeinträchtigt sehen. Die Arbeitskräfteknappheit steuert in Deutschland auf ein Rekordniveau zu: 1,7 Millionen offene Stellen zählte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im ersten Quartal – so viele wie nie zuvor. Wenn die Agentur für Arbeit dazu mitteilt, dass lediglich 35 Prozent aller Stellen sichtbar sind, kann noch mit einer wesentlich höheren Anzahl offene Positionen gerechnet werden.

Die Arbeitslosenquote lag im April bei 5,0 Prozent und damit auf dem Vor-Corona-Niveau vom März 2020. Wenn eine „vier“ geschrieben wird, ist quasi Vollbeschäftigung vorhanden. Die FAZ schrieb vergangene Woche; „Die Personalnot kommt mit Wucht. Ein geballter Alarmruf lässt aufhorchen: Der Mangel an Fachkräften verschärft sich dramatisch.“ Als Grund werden z.B. die Digitalisierung aufgeführt. Das ist spannend, da gerade dieses Thema als Argument erwähnt wurde, weshalb demnächst bis zu 40 Prozent aller Positionen wie wir sie kennen, wegfallen würde.

Die Demographie reißt eine Lücke – Jahr für Jahr

Schließlich – keine wollte es wahrhaben und dennoch war dieses der Haupttreiber im Hintergrund – ist da die Demographie. Gebetsmühlenartig kann wiederholt werden, dass die kommenden Jahre jeweils ca. 1,4 Millionen Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen, die geburtsstarken Jahrgänge bis 1965. Gleichzeitig stoßen jährlich zwischen 600.000 und 700.000 Millenials und Generation Z neu ins Berufsleben. Die Lücke lässt sich einfach beziffern. Ein sozialverträglicher Personalabbau kam vielen Unternehmen sicherlich entgegen, indem Positionen nicht neu besetzt wurden. Als aber die Untergrenze erreicht wurde, war jede Verabschiedung in den Ruhestand zunehmend schmerzhaft.

Dazu gesellt sich sicherlich „The great Resignation“. Die große Kündigungswelle haben wir in Deutschland noch nicht in der Weise wie in den USA erlebt. Aber Corona war ein Weckruf. Im Home-Office haben sich viele über den Sinn ihrer Tätigkeit Gedanken gemacht. Die Berichte über Personalmangel haben Mitarbeiter – wie Rudolf Friedrich – ermutigt auch ihren Hut in den Ring zu werfen.  Fast 50 Prozent der Deutschen könnten sich vorstellen, den Job zu wechseln. 2017 waren es noch weniger als 20 Prozent schreibt die FAZ. Die beliebten Arbeitgeber haben keine Schwierigkeiten die Lücken zu füllen, aber weniger bekannte Firmen leiden nicht nur wegen der Demographie, sondern auch auf Grund der zunehmenden Wechselbereitschaft ihrer Mitarbeiter.

Wozu Aufträge akquirieren, die nicht abgearbeitet werden können?

Für Arbeitgeber handelt es sich um einen Paradigmenwechsel. Aufträge akquirieren macht wenig Sinn, wenn sie nicht abgearbeitet werden können. Nicht umsonst werden qualifizierte Personaler gesucht wie nie zuvor. Effektive Recruiting-Prozesse stehen im Fokus, verbunden mit Mitarbeiterbindungsmaßnahmen. Gleichzeitig soll aus Exit-Gesprächen gelernt werden, was verbessert werden kann. Dabei handelt es sich nur begrenzt um monetäre Initiativen. Sinngebung, eine individuelle Förderung sowie eine bessere Unternehmenskultur stehen hoch im Kurs. Die Führungskraft wird zum Erfolgsfaktor, anders als in der Vergangenheit. Neben aller fachlichen, strategischen und methodischen Kompetenz steht plötzlich die Sozial- und Führungsfähigkeit im Mittelpunkt. Wer die Mitarbeiter nicht halten kann, verliert an Mandat.

Welche Chancen bietet der aktuelle Arbeitsmarkt qualifizierten Bewerbern?

Was bedeutet dieses nun für Bewerber? Gute Nachricht, denn das Beschäftigungsbarometer signalisiert eine steigende Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber. Die Offenheit gegenüber Personen mit Migrationshintergrund nimmt zu. Auch das Alter verschiebt sich nach hinten. Ich nehme wahr, dass Personen bis Mitte 50 bei entsprechender Qualifikation kaum Schwierigkeiten haben, einen neuen Job zu finden.

Natürlich sind ausgeschriebene Stellen noch immer ein Magnet. Die Digitalisierung führt zu einer Inflation der Unterlagen. Weil viele sich auf alles bewerben was sich bewegt, beziffern Arbeitgeber die Anzahl der brauchbaren Profile mittlerweile auf 10 Prozent. Darunter leiden die Kandidaten, die sich Zeit nehmen, eine erstklassige und individuelle Bewerbung zu verfassen. Wie soll diese unter 400 Zuschriften auffallen?

Den Bewerbungsprozess umdrehen

Daher – und aus strategischer Hinsicht hat sich hier nicht viel geändert – macht es Sinn, den Prozess umzudrehen: Alleinstellungsmerkmale erzielen, Aufmerksamkeit auf sich ziehen, Arbeitgeber, die sich beim Arbeitnehmer bewerben! Illusion? Nein, tägliche Realität! Die Mitarbeiterin Interne Revision, die vor zwei Wochen ihr Profil bei Stepstone hinterlegt hat, war über die Zuschriften der Headhunter überrascht. Der Vertriebsleiter, der sein Profil bei XING und LinkedIn optimiert hat, wurde einen Tag später vom Recruiter angeschrieben. Der CFO, der gut recherchierte Personalberater angeschrieben hat, erhielt eine Einladung zum Interview von einem Drittel der Adressaten. Und die Dame, die initiativ einen Gesundheitskonzern mit einem Milliarden-Umsatz für eine Compliance-Position angeschrieben hatte, bekam sofort ein Vorstellungsgespräch mit dem Personalvorstand.