Netflix & Co. zeigen uns die Welt von gestern

Wir schauen uns einen Film aus den 1970-er Jahren an. Männer mit langen Haaren, Bärten, Koteletts. Hosen mit weiten Beinen. Im Hintergrund VW-Bullis. Frauen tragen Flower-Power Gewände. Die Musik ist schwanger von Pink Floyd und einem Hang zum Psychedelischen. Lost World. Eine Welt die es mal gab. Bei einer Abschiedstour der Rolling Stones kann die gezeigte Vergangenheit als Brücke noch etwas nostalgisch in unsere Gegenwart hineingeholt werden.

Bei Schwarz-Weiß Filmen von vorm dem zweiten Weltkrieg wird dieses schon schwieriger. Es handelt sich um Zeitdokumente einer verflogenen Epoche. Geschweige denn der Stummfilm mit Stan Laurel und Oliver Hardy. T-Fords liefern sich Verfolgungsjagden mit den Ordnungshütern. Wie die ersten Bilder aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg fühlen wir uns in eine Geschichtsstunde zurückversetzt.

Blick in den Spiegel

Neu ist, dass dieses Gefühl einem auch bei ganz aktuellen Filmen übermannt. Begrüßungen am Flughafen. Exklusive Flüge in First Class Kabinen. Badespaß am überlaufenden Strand. Wichtige Termine im Restaurant. In einer merkwürdigen Weise schauen wir uns eine Welt an, die nicht länger die unsrige ist obwohl die Filme gerade produziert wurden.

Nur, es fällt uns noch immer schwer, zu entscheiden, was die eigentliche Welt ist. Die Bilder repräsentierten vor zwei Monaten noch unser Erleben. Wer Andy Warhols Film „Purple Rose of Cairo“ gesehen hat, kennt die Verschmelzung zwischen Film und Wirklichkeit. Es ist nicht klar, wer wohin gehört. Wenn wir aus dem Kino kommen (oder besser: kamen) ließen wir die Fiktion hinter uns und begaben erneut in die Realität. Heute erscheint dieses spiegelverkehrt. Die Welt bei Netflix, Amazon, Apple TV und Disney ist die uns bekannte Wirklichkeit. Wenn wir den Film zu Ende geschaut haben, befinden wir uns wieder in unserem noch immer unbekannten Umfeld.

VUCA

Viele von uns haben – mit Vergnügen – von der VUCA-Welt gesprochen. Wir waren schlau und wussten, dass die Welt volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig war. Nicht wenige haben ihr Einkommen damit verdient, diese Weisheiten anderen beizubringen. Gleichwohl waren wir der Meinung, dass wir die Änderungen kommen sehen würden.

Der Begriff kommt aus dem Militär. Kommandos und Mariniere lernen in einer VUCA-Umgebung Entscheidungen zu treffen. Sie springen aus einem Flugzeug hinter die feindlichen Stellungen und finden Situationen vor, die sie sofort einschätzen sollen um richtige Entscheidungen zu treffen. Diese VUCA-Welt ist nun über uns eingebrochen.

Berater waren gut im Unterrichten. Den eigenen Umgang damit zu finden, fällt schwerer, wie der letzte BDU-Bericht (Bund Deutscher Unternehmensberater e.V.) zeigt. Heimlich wünschen sich viele ein Ende der Krise. Da diese allerdings fortdauert, hilft es weniger Überbrückungen zu finden bis sich „die Welt wieder normalisiert“. Zunehmend sind neue Konzepte gefragt die tragfähig in der Abnormität sind, die zur neuen Normalität geworden ist.

Seine Gedanken im Griff haben

Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Nackte Zahlen zeigen den Erfolg oder Misserfolg neuer Ansätze. Hier versucht sich der Anbieter von Urlaubsreisen (z.B. Secret Escapes) als Online-Weinhändler Urlaubsfeeling ins Wohnzimmer zu bringen und ist damit möglicherweise erfolgreicher als der Mode-Anbieter der einen weniger radikalen Schwenk macht und Fashion nun auch über das Internet anbietet.

Ben Horowitz, ein bekannter US-Investor schreibt in seinem Buch: “The Hard Thing about Hard Things”:

“By far the most difficult skill I learned as CEO was the ability to manage my own psychology […] Over the years, I’ve spoken to hundreds of CEOs, all with the same experience. Nonetheless, very few people talk about it and I have never read anything on the topic. It’s like a fight club of management: the first rule of the CEO psychological meltdown is don’t talk about the psychological meltdown”.

Verabschieden und verlernen

Je schneller wir uns verabschieden von der Welt die wir kannten, je rascher wir verlernen was die Erfolgsfaktoren der Vergangenheit waren, umso größer ist die Chance, dass wir eine neue Welt adoptieren und uns darin zurechtfinden.

Diese Welt ist nicht nur böse. Corona ist der große Sozialist. Was Marx nicht gelungen ist, schaffen unsichtbare Viren. Plötzlich sind wir alle gleich. Der Nachbar kommt nicht von Mauritius zurück, während wir uns „nur“ Mallorca leisten konnten. Der Chef sitzt nicht im Drei-Sternen Lokal während wir uns schon über „Meckes“ freuen. Er hat keine Karten für die Oper – dafür aber vielleicht einen neuen Blick für die Nachbarn, die er zum ersten Mal beim Grillen kennenlernt.

Neues Konsumverhalten

Ein Nebeneffekt (je nach Perspektive: sinnvoll oder bedenklich): Die Kasse ist voller. Wer nicht mehr herumfährt, ins Kino geht, Ski-Urlaub bucht, Restaurants besucht oder gar neue Klamotten braucht, hat mehr Geld übrig am Ende des Monats. Geld, das – zugegebenermaßen – vorher anderen zu Gute kam. Gleichwohl reflektieren viele ihr Konsumverhalten und eine Introspektion die zu einem bewussten Handeln führt, ist sicherlich begrüßenswert.

Mit kommt ein Bild aus Genesis Kapitel 32 in den Sinn. Jakob kämpft mit einem Engel uns stellt Forderungen. Am Ende bekommt er was er sich wünscht, wird aber auf das Hüftgelenk geschlagen und geht ab diesem Moment hinkend durch das Leben. Die Welt in die er zurückkehrte war die gleiche. Nur er wurde zu einem anderen Menschen und war von seiner Begegnung mit dem Himmlischen Wesen geprägt, bei jedem Schritt.

Demut: Unterwürfigkeit oder Stärke?

Auch wenn die Welt wieder das uns bekanntere Antlitz annimmt, bleiben viele von der Begegnung mit der Pandemie beeinflusst. Die Fragilität des Lebens wurde sichtbar. Die Unberechenbarkeit der Sicherheiten. Die Relativität der Stabilität. Dieses Erlebnis kann zu etwas führen das manche „Demut“ nennen. Bei vielen ein verhasstes Wort, da es mit Unterwürfigkeit oder Schwäche assoziiert wird. Wer es als Haltung versteht, dass nicht alles kontrolliert werden kann, eine Anerkennung und ein Respekt dieser Tatsache, geht „hinkend“ durch das Leben, bei jedem Schritt in Erinnerung, dass es Situationen gibt, die uns an unsere Grenzen bringen. Ein Wissen um die eigenen Begrenzungen ist keine schlechte Grundvoraussetzung, sie zu überwinden!