Umwälzungen bei der Qualifikation – Können ersetzt Wissen

Vor 15 Jahren habe ich mit einem Universitäts-Professor, der ein eigenes Institut gegründet hatte, einen Strategie-Workshop durchgeführt. Er beschäftigte 15 Mitarbeiter und im Bereich Infrastruktur-Projekte für arabische Länder. Am Rande meinte er, dass seine Kernkompetenz bisher das Wissen gewesen war. Nun stellte er – durchaus mit Bedauern – die Demokratisierung der Bildung fest und damit auch die Inflation seiner Alleinstellungsmerkmale.

Dieser Trend hat sich beschleunigt. Nicht nur auf Google & Co. findet man Antworten zu fast allen Fragen. Das Angebot an Lern-Plattformen im Netz ist enorm. Udacity.com für Business. Babbel.com für Sprachen. Edudip.com als Universal-Anbieter. Oder doch lieber Codecademy.com für das Programmieren?

Auch über die Tatsache hinaus, dass Wissen Allgemeingut wird, nimmt die relative Bedeutung ab. Warum? Einmal kann der Kenntnisstand nur hinter der Realität hinterher hinken. Im ICT-Bereich ist die Halbwertzeit des Wissens derart geschrumpft, dass die Lehrgänge mit komplexen Akkreditierungsverfahren der Geschwindigkeit nicht folgen können. Fazit: Ich lerne immer was gestern aktuell war. Arbeitgeber suchen nach praktischem Können und nicht nach theoretischem Wissen.

Ein zweiter Grund warum das reine Wissen an Bedeutung verliert, hängt mit der bereits erwähnten Akademisierung zusammen. Der Arbeitgeber sucht nach weiteren Differenzierungsmerkmalen und wird z.B. fündig beim „Cultural fit“. Realistisch wurde dieses Merkmal seit vielen Jahren unterschätzt. Der Buchhalter der von A nach B wechselte, war nicht zwingend erfolgreich. Nicht, da er den Unterschied zwischen Soll und Haben nicht länger wusste. Sondern weil er gestern in einer Kultur der Freiheit lebte und heute an der kurzen Leine gehalten wird. Oder sein vorheriger Chef legte Wert auf Qualität. Das neue Unternehmen wird aber von der Ergebnisgeschwindigkeit getrieben, auch wenn dabei die Genauigkeit mal auf der Strecke bleibt.

Für einen Arbeitgeber wird es schwieriger herauszufinden, welcher Kandidat passt. Formale Unterlagen wie der Lebenslauf oder das Anschreiben geben nur bedingt Aufschluss über die Kriterien die an Bedeutung gewinnen. Im Umkehrschluss wird die Bewerbung für Kandidaten komplexer.

Es wird zunehmend mit anderen Formaten experimentiert. Der Bewerber verweist auf sein XING- oder LinkedIn-Profil. Hier kann er ausführlicher weitere Aspekte der Persönlichkeit darstellen, die in einer formalen Bewerbung keinen Raum haben. Es wird sichtbar mit wem er verbunden ist, welchen Gruppen er folgt oder in welchen Foren er eingebunden ist. Vielleicht verweisen Links auf einen YouTube Auftritt, wo der Kandidat mal eine Ansprache gehalten hat. So ist er „live“ erlebbar.

Und… noch mehr wie bisher verschwinden Positions-Beschreibungen, Aufgabengebiete und Kompetenzbereiche. Alle sagen nichts über Leistung oder Erfolg aus. Google Recruiterin Ochsenknecht zeigte sich „außerordentlich beeindruckt“ (t3n.de) von einem Kandidaten mit einem „Wie binde ich mir eigentlich einen Schlips“ Video. Durch die Werbeeinnahmen konnte er sich sein Studium finanzieren.

Neue Welt. Die zunehmende Akademisierung macht austauschbar. Unternehmen suchen – auch auf Grund der Demokratisierung des Wissens – nach praktischer Kompetenz. Das stellt neue Anforderungen an die Personalsuche. Unternehmen verlagern die Prozesse in Richtung „Cultural Fit“ und „Persönliche Begeisterung“. An Bewerber die neue Frage, zu zeigen, wie intrinsische Motivation, Passion, das Gelingen von Projekten und deren Transfer in einen beruflichen Kontext sichtbar werden.