Unsichtbare Helden

Helden. Nein, ich spreche nicht von der Kassiererin bei Lidl, dem LKW-Fahrer von Klo-Papier und sogar nicht von der Krankenschwester auf der Intensiv-Station. Sind das keine neuen Alltagshelden? Gewiss! Sie wurden gar mit der Medaille der „Systemrelevanz“ ausgezeichnet. Dennoch bin ich etwas zögerlich, da der Begriff inflationär verwendet werden kann. Ein Held hat – auch – etwas mit Freiwilligkeit zu tun. Zum Heldentum wird man nicht gezwungen. Sicherlich waren viele KassiererInnen die richtigen Personen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Sie waren allerdings auch da, weil sie eben diese Tätigkeit ausgeübt haben damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Manche sind über sich hinausgewachsen indem sie Konflikte in der Schlange vor der Kasse geschlichtet haben oder Gerechtigkeit haben gelten lassen weil sie die Anzahl Ware im Einkaufswägelchen ansprachen. Andere haben ihre Berufstätigkeit bewusst ausgehalten und akzeptiert, dass sie – in Krisenzeiten – mit vielen unterschiedlichen Personen in Kontakt kamen, die ein potenzielles Risiko darstellten. Realistisch haben andere den Job verflucht, die Unwägbarkeit der Tätigkeit gehasst und den vorherigen berechenbaren Arbeitsbedingungen nachgetrauert.

Alte Helden

Wenn von neuen Helden die Rede ist, gab es vielleicht auch „alte Helden“? Ja, und nicht wenige! Viele waren unsichtbar. Es ist einfach, die Hunderttausende und Millionen zu übersehen, die sich gestern auf der Gewinnerseite befanden. Da wir fast täglich mit existenziellen Nöten konfrontiert werden, nehmen wir diese persönlichen Entwicklungen weniger wahr. Denken wir aber an den Fußballspieler der gestern einen hohen Marktwert hatte. Heute sinkt dieser rapide. Es ist nicht klar, wann die nächsten Spiele ausgetragen werden. Klar ist allerdings, dass das Publikum fehlen wird. Ich will hier nicht eingehen auf die Tatsache, dass ein Spielen mit 22 Spielern eine eher technische und weniger eine emotionale Ausprägung vorweist. Aber auch hier werden Lebensentwürfe über den Haufen geworfen und eine Identität in Frage gestellt. Sportkarrieren erstrecken sich normalerweise auf einen überschaubaren Zeitraum, in dem häufig die wirtschaftliche Grundlage für das weitere Leben gelegt wird.

Wenn der Beruf nicht ausgeübt werden kann

Wir müssen nicht lange nachdenken und es fallen uns Beispiele ein von Schauspielern, Orchestermitgliedern, Entertainern auf Kreuzfahrtschiffen, Trainern und vielen anderen Berufen die ihre Tätigkeit zwingend vor und mit Menschen ausüben. Viele waren richtig gut und haben ihren Alltag mit Leidenschaft gestaltet. Auch wenn die heutige Lage keine existentielle Krise darstellt (und das ist gewiss nicht für jeden der Fall), finden sie sich mit einem Leben zu Hause in der Kurzarbeit oder der Hoffnung auf einen Wendepunkt zurecht. Vor einigen Tagen las ich einen Bericht über ein Profi-Handballspieler, allerdings nicht aus der Top-Liga, der im Moment Regale bei einem Discounter auffüllt.

Die verborgene Persönlichkeit

Ich bin von einigen solchen Personen umgeben. Eine Krise macht auch immer die „verborgene Persönlichkeit“ sichtbar. Einerseits winken Bitterkeit, Selbstmitleid oder Schuldzuweisung. Bitterkeit über die Ungerechtigkeit des Lebens. Wer alles auf ein Gelingen seiner Absichten fokussiert, hat dennoch nicht die Gewährleistung des Erfolgs. Selbstmitleid, da es anderen vermeintlich besser geht, die in einer anderen Branche arbeiten. Schuldzuweisung Richtung Politik, Wissenschaft und Unternehmenslenker, die mit ihren Entscheidungen Einfluss auf die Lebensqualität nehmen.

Andererseits laden eine Relativierung der Umstände, ein Ausharren oder ein Perspektivenwechsel und somit die Persönlichkeitsentwicklung ein. Es sind die „unsichtbaren Helden“ die ihre Umgebung nicht nerven wollen. Sie entscheiden sich, keine Last für andere zu werden, sondern allein mit den Umständen fertig zu werden – und darin vielleicht beispielhaft ihr Umfeld zu inspirieren.

Der Vollständigkeit sollten hier auch die Einzelhändler, Hotelbesitzer und Gaststätteninhaber erwähnt werden. Diese können allerdings davon ausgehen, ihrem Beruf relativ bald wieder nachzugehen. Dieses sieht für Fußballspiele, Konzerte und Theateraufführungen anders aus.

Braucht es dazu eine Pandemie?

In meinem Beruf als Karrierecoach und Outplacement-Berater hatte ich bereits vor der Pandemie mit Menschen zu tun, die sich unverschuldet in einer neuen Realität wieder fanden. Es waren Fachspezialisten, Führungskräfte, Manager.

Alle haben die Geschichte von einem abrupten Ende erzählt. Vielfach hat sich die erfolgreiche Karriere von einem Tag auf den anderen nach Jahren oder Jahrzehnten im Nichts aufgelöst. Die Geschichten waren unterschiedlich – und doch sehr gleich! Die Niederlassung wurde geschlossen. Der Betrieb hat Insolvenz angemeldet. Neue Eigentümer haben Personen ihres Vertrauens installiert und den Weg mit Aufhebungsvereinbarungen freigeräumt. Die Chemie zum neuen Chef hat nicht gepasst. Mobbing war im Spiel.

Abhängig vom ausgeübten Beruf, Alter oder Werdegang war der Anschluss häufig mühsam. In einigen Fällen kam die Karriere zum Erliegen. Der Offset-Drucker tat sich mit einem neuen Wirkungskreis schwer. Trotz des vermeintlichen Fehlens von Vorurteilen war die Reise für Personen jenseits von 55 lang bis sehr lang! Und wer durch kurze Stationen, selbst verschuldet oder auch nicht, zu viele Fragen aufrief, empfand sich im Interview unter Rechtfertigungsdruck.

Veteranen

Diese Personen erlebten längst vor Corona wie liebgewonnene Tätigkeiten jäh ein Ende finden können. Nicht alle waren schnell wieder erfolgreich. Andere haben keinen Anschluss mehr gefunden. Für viele bedeutete das Ende der bisherigen Karriere ein signifikanter Einschnitt. Sie haben sich neu erfinden müssen. Manchmal in Berufsfeldern die nicht die gleiche Erfüllung boten, ein geringeres Einkommen, weniger Ansehen.

Die Frage stelle sich ihnen bereits vor Monaten und Jahren. Bitterkeit, Selbstmitleid und Schuldzuweisung? Oder Relativierung, Ausharren und Perspektivenwechsel? Einige dieser Veteranen schauen heute mit einem Lächeln auf ihre Umgebung. Die Verwirrung ihrer Freunde und Verwandte kommt ihnen seltsam bekannt vor. Damals, als sie selbst betroffen waren, hat keiner Verständnis gehabt. Es kommt keine Schadenfreude hoch. Aber diese Helden, die ihren Heroismus vor längerer Zeit – von wenigen wahrgenommen – unter Beweis gestellt hatten, haben ihre Lektion bereits gelernt. Es ist toll, dass der Scheinwerfer auf die neuen Helden, die Kassiererin, den LKW-Fahrer, den Krankenpfleger gerichtet wird. Aber auch vorher hat es Helden gegeben! Sie sind unter uns. Schon lange!

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